Montag, 13. April 2009

Mit einem Klick aus dem Elend

Wie das Projekt «One Laptop per Child» in einem südafrikanischen Slum Kindern neue Chancen eröffnet.

Quelle: sonntagszeitung.ch
Datum: 12.04.2009
Autor: Till Hein

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Zitat:
Es ist ein Uhr mittags. Noch viel zu früh. Doch die ersten Kinder von Kliptown warten schon vor der grossen Baracke. Gleich öffnet Sozialarbeiter Thulani Madondo die Tür zum Kinder- und Jugendklub des Townships am Rande von Johannesburg.

45 000 Menschen leben hier. Im Slum gibt es kein fliessend Wasser, keinen Strom. 70 Prozent der Bewohner sind arbeitslos, 25 Prozent HIV-positiv. Vielen Kindern bleibt nur das Stehlen. «Die Laptops sind unsere grosse Hoffnung!», sagt Madondo und öffnet die Türen der Baracke.

Vor einem Jahr hat Madondos Jugendklub, das «Kliptown Youth Program», 100 Notebooks aus den USA bekommen. Kostenlos. Stolz zieht Andisiwe, ein quirliges Mädchen mit Pippi-Langstrumpf-Zöpfen, eines dieser weiss-grünen Geräte aus der zerknitterten Plastiktüte. «Toll, nicht wahr?», sagt sie, und streicht mit der Hand zärtlich über die Tastatur.

Die Notebooks in Kliptown sind Teil einer grossen Mission: 2005 gründete Nicholas Negroponte, Professor am renommierten MIT Media Lab in Boston, die Hilfsorganisation One-Laptop-Per-Child (OLPC). Sie verteilt Laptops an die ärmsten Kinder der Welt. Wenn man Negroponte glaubt, sind seine Computer Zaubermaschinen: Fachwissen, Lerntechniken, Teamfähigkeit, Selbstbewusstsein, Kreativität - all das sollen die Kinder dank ihnen selbstständig erwerben. Grosse Konzerne wie AMD, Ebay, Google oder Quanta Computer gehören zu Negropontes Partnern.

Der Fussboden im Jugendtreff ist abgewetzt, die Neonröhre an der Decke herausgebrochen. Auf einem Pult türmen sich Laptops, darunter ein Kabelsalat mit vielen Dreifachsteckern. Es ist die Ladestation für die Notebooks. Die Kinder benutzen ihre PCs auch zu Hause, und die Akkus reichen nur für ein paar Stunden.

In Madondos Jugendtreff sind die Laptops die Hauptattraktion. Man kann mit den weiss-grünen Kisten schreiben, rechnen, im Internet surfen, Musik herunterladen, Videos drehen, komponieren und zeichnen. «Die Kinder entdecken täglich weitere Möglichkeiten», schwärmt Madondo.

Der ehemalige Automechaniker ist heute Netzwerkexperte
Einige sitzen bereits vor den Bildschirmen. Amanda etwa, ein zierliches Mädchen mit grossen, neugierigen Augen, probiert gemeinsam mit ein paar Freundinnen ein Musikprogramm aus: Techno hämmert aus dem Lautsprecher, die Mädchen wippen im Takt. Andere Kinder rechnen: Auf einer Art Schachbrett sind auf dem Bildschirm Rechenaufgaben und Zahlen zu sehen. Wer bei «2 x 4» das Feld mit der «8» anklickt, bekommt einen Punkt. «Yeah!», ruft ein Junge begeistert. Wieder richtig!

Früher, als er noch gewöhnliche Hausaufgabenbetreuung anbot, hielt sich der Andrang in Grenzen, erzählt Madondo. Aber dank der Computer habe sich sein Treff super entwickelt: Statt knapp 100 hat der Klub inzwischen 251 Mitglieder - und die Notebooks werden langsam knapp.

Ob das Training mit den Laptops die Chancen der Kinder in Entwicklungsländern tatsächlich verbessert, sei bisher nie systematisch untersucht worden, sagt Madondo. Auch in Kliptown nicht. Für ihn steht der Erfolg des Notebook-Projekts dennoch ausser Frage: «Die Kinder sind selbstbewusster geworden, seit sie die Computer haben», erzählt er. «Und sie können sich länger konzentrieren.» Madondo glaubt, dass die Laptops helfen werden, den Lebensstandard im Slum zu verbessern. «Bisher ist mir zwar noch kein neuer Bill Gates unter den Jugendlichen aufgefallen», lächelt er. «Aber wir haben die Computer ja auch erst seit ein paar Monaten.»

In einer Ecke der Baracke hat es sich Andisiwe mit zwei Freunden gemütlich gemacht. Mit Kennerblick tippt sie ein paar Tasten an. Dann beginnen die Kinder zu singen. Es ist ein trauriges Lied auf Zulu, eine der Stammessprachen in Südafrika. Die Kinder versuchen das Lied aufzunehmen. Jetzt presst Andisiwe ein Ohr an den Lautsprecher und strahlt. Stolz reicht sie ihr Notebook herüber: Leise zwar, aber die Melodie ist zu hören.

Ab 15 Uhr dürfen die Kinder online gehen - eine der Hauptattraktionen. «Wir schalten das Modem bewusst erst am Nachmittag ein», erklärt Thulani Madondo. «Sonst würden morgens zu viele die Schule schwänzen.» Die meisten Kinder aus dem Jugendtreff kennen niemanden ausserhalb von Kliptown. Die mailen sich halt einfach gegenseitig. Andere tauschen sich auch mit Onlinefreunden in der Limpopo-Provinz aus, ganz im Norden Südafrikas. An eine dortige Schule wurden im Herbst ebenfalls 100 OLPC-Computer gespendet.

Viele der Kinder wollen einmal so werden wie Neo Masilo. Der fröhliche 35-Jährige mit der Narbe quer über die linke Wange ist oft die letzte Rettung: immer dann, wenn der Internetserver mal wieder streikt. Eigentlich ist Masilo Automechaniker. Vor zehn Jahren lieh ihm jedoch ein Kumpel einen PC aus. «Hab ihn nie mehr zurückgegeben», erzählt er und grinst.

Nächtelang sass er vor dem Computer, probierte alle Programme aus. Weil der PC häufig abstürzte, begann er sich für Wartung und Support zu interessieren. Mittlerweile ist er Netzwerkexperte und PC-Doktor. Neo hat das Modem wieder zum Laufen gekriegt. «Kann los gehen!», ruft er und zwinkert den Kindern zu: Bahn frei fürs Surfen!

«Bisher ist kein einziger Laptop abhanden gekommen»
OLPC-Gründer Negroponte träumte ursprünglich von 100 Millionen Laptops für arme Kinder. Aber vielen Regierungen in den Entwicklungsländern waren selbst die Billigcomputer zu teuer. Andere erklärten, sauberes Wasser und besser ausgebildete Lehrer seien viel wichtiger als tragbare Computer. Immerhin: 750 000 Stück sind mittlerweile in Lateinamerika, Asien, dem Mittleren Osten und Afrika verteilt.

«Bisher ist uns kein einziger Laptop abhanden gekommen», sagt Sozialarbeiter Madondo stolz. «Aber bei zehn Geräten ist leider der Bildschirm zersplittert», fügt er verlegen an. Die Laptops überleben zwar selbst einen Sturz auf den Boden, aber anfangs hätten einige Kinder die Notebooks durch die Gegend geschleudert, wenn sie abstürzten.

In der Bibliothek des Jugendtreffs - einige Holzregale, vollgestopft mit Märchenbüchern, Tier- und Seeräubergeschichten, Mathe-Büchern und Englisch-Kursen - haben sich ein paar Mädchen breit gemacht. Sie fläzen in den Sitzsäcken oder liegen bäuchlings auf dem Fussboden. Viele haben Bücher aufgeschlagen und tippen konzentriert in ihren Laptop.

«Sie chatten», flüstert der Bibliothekar, ein Mittzwanziger in einem T-Shirt mit der Aufschrift «Dont kill yourself - skill yourself!». Und in der Tat: Die Mädchen tauschen sich über ihre Lektüre aus; berichten ihren Freundinnen, was den Helden der Geschichten gerade widerfahren ist.Er habe den Kindern erklärt, dass sie hier leise sein müssen, flüstert der Bibliothekar. «Genau wie in einer richtigen Bibliothek.»

Später trommelt Thulani Madondo seine Schützlinge zusammen: «Laptops schliessen, Tische und Stühle zur Seite räumen!» Einige wollen erst nicht recht, müssen sich vom Bildschirm losreissen. Vor Einbruch der Dunkelheit schliesst der Jugendtreff. Es gibt keine Strassenbeleuchtung im Township, und einige Kinder müssen noch die gefährlichen Eisenbahngleise ohne Bahnschranken überqueren. Taschenlampen haben sie nicht.

Amanda, das zierliche Mädchen, das so gerne Techno hört, trägt ihr Notebook sorgfältig im Plastikbeutel verpackt nach Hause. Immer geradeaus, der staubigen Hauptstrasse entlang, vorbei an Wellblechverschlägen und Müllbergen. Heute Abend wird sie ihren 17 Geschwistern, Nichten und Neffen mal wieder PC-Unterricht geben.