Montag, 20. April 2009

Es tut der Bildung weh, weh, weh

«Klick» heisst das Buch, aber der Bildschirm auf dem Umschlag ist verhüllt. Es geht gerade nicht um den Klick am Computer, sondern um jenen in den Köpfen. Und der stellt sich laut der Autorin nur ein, wenn Kinder weniger klicken und mehr lesen.

Quelle: derbund.ch
Datum: 18.04.2009
Autor: Daniel Goldstein

Home | Project | OLPC / Ondalivre | Video und Berichte

Zitat:
Wer ein ideologisches Feindbild braucht, muss schon wieder umlernen: Weder der zahnlos gewordene Marxismus noch der überbordende Kapitalismus ist heute die grösste Bedrohung, und wer auf Islamismus oder Terrorismus tippt, liegt falsch: Der «Digitalismus» ists, den die «Zeit»-Journalistin und Buchautorin Susanne Gaschke uns als übermächtiges Schreckgespenst präsentiert.

Zwar definiert sie «Digitalisten» recht unscharf als «Menschen, die auf jede Kritik am Netz empfindlich reagieren», und sie beschreibt diese geradezu als bunten Haufen von «Technikaffinen», PR-Fachleuten und andern trendfreudigen Öffentlichkeitsarbeitern bis hin zu Barack Obama, Angela Merkel und der «guten alten SPD» (der ihr Mann angehört, der Bundestagsabgeordnete Hans-Peter Bartels). Aber all diesen «Propheten der Netzwelt» ist offenbar eine veritable Ideologie gemeinsam, mit allem, was dazugehört: Welterklärung, Heilsversprechen, Eigennutz.

Wem das Netz nützt
Gaschke bekennt: «Mich beunruhigt die Lust, die viele Netzbegeisterte an der Vorstellung zu finden scheinen, alte Zustände und Gewissheiten im wirklichen Leben würden nun endlich von einem Sturm der digitalen Erneuerung hinweggefegt. Ein Sturm aber prüft nie besonders sorgfältig, was vielleicht Bestand verdient hätte. Ausserdem erinnert diese Rhetorik einerseits sehr an den ideologischen Neoliberalismus mit all seinen gnadenlosen Flexibilisierungsforderungen, andererseits an den Marxismus und alle kompromisslosen Gewissheiten seiner Anhänger.»

Mit den bekannteren Ideologien teilt der Digitalismus durchaus den Herrschaftsanspruch. Einmal mit seinem Hunger nach persönlichen Daten, dann aber vor allem auch mit seiner Bildungs- und Arbeitsorganisation. Diese hat, folgt man der Autorin, den Systemzweck, statt Bürgern «infantilisierte» Konsumenten heranzuzüchten und deren Arbeitsleistung auszubeuten.

Vielleicht wird diese sogar gratis im Netz erbracht: «Das Netz biete wenigen eine unglaublich gute Möglichkeit, das gemeinschaftliche Produkt der vielen kommerziell auszuschlachten», schreibt Gaschke gestützt auf Nicholas Carr über «Mitmachmedien» wie Youtube. Carr, Ex-Chefredaktor der «Harvard Business Review», ist zusammen mit dem kritischen Medienwissenschaftler Neil Postman einer ihrer Kronzeugen. Im Übrigen erweckt sie den irrigen Eindruck, über die «Netzgesellschaft» werde nur Jubelpropaganda geschrieben.

Bildschirm raubt Zeit für Bücher
Zentral für die von Gaschke behauptete «digitale Verdummung» ist die Verdrängung des Lesens durch Computernutzung, gefördert durch grosszügige Lieferanten sowie von diesen geköderten und auf Modernität versessenen Pädagogen und Bildungspolitikern. Zu den anderthalb Stunden, die deutsche Jugendliche vor zehn Jahren durchschnittlich pro Tag vor dem Fernsehbildschirm verbrachten, sei nun gleich viel Computerzeit hinzugekommen, praktisch ohne TV-Verzicht: «Das sind Stunden, die für die Lektüre fehlen.» Gaschke sieht «das Viellesen, das Lesen vor allem von Büchern, (als) notwendige Voraussetzung für jene Lesekompetenz, die es ermöglicht, auch mit elektronisch angebotenen Texten souverän umzugehen».

Ohne diese Kompetenz aber fallen alle Verheissungen der «Informationsgesellschaft» in sich zusammen, weil «wir Weltverständnis nicht bei Google finden», die digitale Fülle weder sinnvoll durchforsten noch einordnen und nutzen können – sondern höchstens fähig werden, dem vielen Schrott im Netz «kreativ» weiteren hinzuzufügen.

«Medienverwahrloste Schüler»
Die Autorin appelliert ans «Bildungsbürgertum, endlich Stellung zu beziehen» und einen ganzheitlichen, auf «Charakter und Urteilsfähigkeit» gerichteten Bildungsbegriff zu verteidigen. Auch gegen eine angebliche Demokratisierung der Schulbildung: «Ihr, sagen die Digitalisten und meinen damit das Bildungsbürgertum, ihr habt bisher bestimmt, was galt und was nicht galt, was Menschen zu wissen hatten, um bei euerem Bildungsspiel mitzuspielen. (...) Das wird jetzt anders, wo jeder potenziell alles wissen kann und alles veröffentlichen, was ihm wichtig erscheint.»

Immer laut den so porträtierten (oder karikierten) Digitalisten erteilen nun die Schüler den Lehrern Nachhilfe bei der Netznutzung und finden selber, was sie brauchen. Gaschke aber zitiert Lehrer, die bei ihren Schülern unkritischen und auf Unterhaltung fixierten Umgang mit dem Internet beobachten, und sie meint: «Diese antiautoritär auftretende digitale Ideologie ist gegenwärtig noch dabei, sich bei uns auszubreiten, und es wird wahrscheinlich Jahrzehnte und zahlreiche schlecht unterrichtete, medienverwahrloste Schülerjahrgänge brauchen, bis wir diesen Trend wieder umkehren können.» In Amerika aber scheine immerhin «eine gewisse Nachdenklichkeit einzusetzen».

Die «Funktion des Lehrers» im Kampf gegen die digitale Verdummung sieht Susanne Gaschke so, dass er «die Schüler zwingt, bei der Sache zu bleiben, und immer wieder mit ihnen die Einordnung blosser Fakten in Hierarchien und Zusammenhänge übt». Ganz ähnlich fungiert die Redaktorin gegenüber der Leserin, nur natürlich ohne Zwang, sondern mit der Versuchung guten Lesestoffs und ohne ausdrückliches Üben, sondern kraft der gebotenen Auswahl und Zusammenstellung.

Ablenkung statt Aufklärung
Aber auch diese Medienfunktion ist in Gefahr: «Die Netzfans unterstellen, online könne man sich freier, vielfältiger, aus unterschiedlichsten Quellen informieren und sei nicht mehr der Autorität der Mainstream-Medien unterworfen. Das stimmt, wenn man auswählen und beurteilen und auch am Bildschirm zu Ende lesen kann. Und wenn man es dann tut. Aber in der anstrengenden Realität des Alltags hat nicht jeder die Zeit dazu oder die Kraft. Oder er wird abgelenkt.»

Ablenkung, so unterstellt die Autorin, ist ja gerade das, was die digitale Ideologie bezweckt, um gefügige, kindische Konsumenten und Zuträger zu erhalten. Auch Medienkonzerne kommen auf den Geschmack, statt bezahlter Journalisten Jekami-Schreiber oder -Filmer zu beschäftigen. Und wenn sich Politiker selber als Blog-Verfasser betätigen, so hat Gaschke dafür nur Spott übrig: «Das Pennäler-Getwitter war als ,Kommunikation mit dem Wähler‘ gedacht? Oh weh.» Das schreibt sie über die Kurzbeiträge, die SPD-Generalsekretär Hubertus Heil von jenem US-Parteitag, der Obama nominierte, in den Internet-Dienst Twitter stellte.

Vergötterter Obama
Dem Internet-Wahlkampf, mit dem Barack Obama «geradezu ein Gott für die Digitalisten» wurde, kann die «Zeit»-Journalistin keine Hoffnung für die Demokratie abgewinnen. Wirksam sei er vor allem insofern gewesen, als er ins wirkliche Leben hineinwirkte, so durchs Auftreiben von Spenden, aber auch durch die Aufmerksamkeit der klassischen Medien.

Und wenn die Erwartungen, die Obama in seiner «Online-Community» weckte, in der politischen Realität nicht erfüllt würden, dann «könnte sich Frustration breitmachen», warnt die Autorin.

Reale Gemeinschaft nötig
Ähnlich wie Bildung ist Politik für Gaschke «eine ganzheitliche Erfahrung, die echter Menschen bedarf, die einander kennen. Sie kann online unterstützt und ergänzt, aber niemals ersetzt werden.» Trotz diesem basisnahen Ansatz zielt die Autorin nur auf repräsentative Demokratie ab und nicht etwa auf direkte, geschweige denn via Internet ausgeübte.

Sie glaubt, dass das «schwindende Interesse an Gesellschaft etwas mit der zurückgehenden Zeitungslektüre bei Jüngeren zu tun haben könnte»: Es fehle dadurch an «gemeinsamen Geschichten», und solche würden auch nicht von der mythisch beschworenen Internet-Gemeinschaft erschaffen; vielmehr bestehe diese aus isolierten Gruppen mit gemeinsamen Interessen, und sei es nur die Pflege gesichtsloser «Freundschaften».

Lapidare «Strategien»
Die «Strategien gegen die digitale Verdummung», die der Untertitel verspricht, schimmern da und dort durch, etwa beim Lob der Lehrerin oder des Redaktors. Ausdrücklich aufgeführt werden sie aber nur gerade auf den letzten vier Seiten, und sie lassen sich auf den einen Grundsatz reduzieren: Man mache von den neuen Medien vernünftigen Gebrauch, verschaffe sich Information statt Berieselung, gebe von sich nur preis, was man wirklich öffentlich machen will, schreibe keine unnötigen E-Mails und beziehe die Teilnahme in Online-Gruppen stets aufs reale Leben.

Vor allem aber: «Für Kinder gilt: Sie brauchen viel, viel Zuwendung von Erwachsenen. Und es ist unglaublich wichtig, dass sie souverän lesen und Geschichten lieben lernen. Wenn sie das können, darf man anfangen, mit Fernsehen und digitalen Medien zu experimentieren – in dem Masse, in dem man bereit ist, zu begleiten, was sie sehen und tun. Wer sagt, es gehe umgekehrt, macht sich etwas vor.» Dem können gewiss auch jene beipflichten, die im Internet nicht nur Gefahren für Bildung, Information und Politik sehen, sondern auch Chancen. Unter ihnen könnte Susanne Gaschke Verbündete finden, wenn sie es nicht vorzöge, sie quasi als nützliche Idioten der digitalen Ideologie zu verunglimpfen.

Originaltext >>
Strategien gegen die digitale Verdummung [Buch bestellen]