Mittwoch, 29. Juli 2009

Bericht: Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies

Uruguay möchte wieder die Schweiz Südamerikas werden. Das in Uruguay regierende Linksbündnis Frente Amplio ist 2005 mit dem Anspruch angetreten, den wirtschaftlichen und sozialen Niedergang des Landes umzukehren.

Quelle: nzz.ch
Datum: 29.07.2009
Autor: Werner Marti, Südamerika-Korrespondenten (NZZ)

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Zitat:
Im Bildungs- und im Gesundheitswesen sind ehrgeizige Reformen in die Wege geleitet worden. Im Oktober müssen die Wähler entscheiden, ob das Reformprogramm fortgesetzt wird.

Gemäss einem Programm der uruguayischen Regierung, das vor zwei Jahren gestartet wurde, sollen bis 2010 alle Grundschüler an öffentlichen Schulen sowie deren Lehrer mit einem persönlichen Laptop ausgestattet sein. Das «Plan Ceibal» genannte Projekt verwendet den 100-Dollar-Computer, den die amerikanische Nonprofitorganisation OLPC (One Laptop per Child) mit Hilfe des Massachusetts Institute of Technology und einer Reihe von Soft- und Hardwarefirmen entwickelt hat. Bis Ende 2008 wurden rund 175 000 Laptops verteilt, vor allem an Schulen im Landesinnern. Inzwischen ist die Agglomeration Montevideo dran. Bis zum vorgesehenen Abschluss Anfang 2010 soll nochmals eine ähnliche Zahl von Computern verteilt werden.

Mit dem Laptop ins digitale Zeitalter
Jorge Brovetto, ein ehemaliger Rektor der nationalen Universität, der bis vor einem Jahr den Posten des Bildungsministers bekleidet hat und heute Präsident des regierenden Frente Amplio ist, erklärt, dass die Kinder zusammen mit den Laptops kostenlosen Zugang zum Internet und die notwendigen Instruktionen erhalten. Der «Plan Ceibal» besitzt eine eigene Website mit Lerninhalten aus den Bereichen Sprache, Mathematik und Naturwissenschaften. Dort können die Schüler unter anderem auch das Schachspiel erlernen oder ihr eigenes Blog kreieren. Ziel des Projektes ist laut Brovetto, dass nicht nur die Schüler ins digitale Zeitalter eingeführt werden, sondern mit ihnen auch die ganze Familie. Die Regierung hofft, dass durch die Ausbildung der Kinder ein Multiplikator-Effekt entsteht und sie ihr neues Computerwissen an die erwachsenen Generationen weitergeben.

Zum Projekt sind in Uruguay auch kritische Stimmen laut geworden. Sie argumentieren etwa, dass der hohe Aufwand für die Anschaffung von mehr als 300 000 Laptops, die eine Lebenszeit von nur wenigen Jahren haben, eine Verschleuderung von Ressourcen sei. Diese Mittel könnten an anderer Stelle besser eingesetzt werden. Kritik gibt es auch an der Qualität der verwendeten Programme. Unabhängig davon, wie man den «Plan Ceibal» einschätzt, ist aber jedenfalls seine symbolische Bedeutung nicht zu übersehen. Er ist ein Paradebeispiel für die Bestrebungen Uruguays, wieder zu seinem Wohlstand in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts zurückzukehren.

Damals war das Land bekannt als die «Schweiz Südamerikas». Uruguay galt als der erste Wohlfahrtsstaat der Region. José Batlle y Ordóñez, der führende Staatsmann an der Wende zum 20. Jahrhundert, hatte ein politisches System errichtet, das ein breites politisches Spektrum an der Macht beteiligte und auf Konsens ausgerichtet war. Der Staat übernahm die Verantwortung für die Erbringung qualitativ vergleichsweise hochstehender Dienstleistungen an die Bevölkerung, vor allem im Schulwesen und im Gesundheitsdienst. Die gute Ausbildung ermöglichte sozialen Aufstieg und führte dazu, dass der Wohlstand breit gestreut war.

Wachsende Zahl von Ausgeschlossenen
Nach Batlles Tod im Jahre 1929 begann das System aber langsam zu bröckeln. An die Stelle einer Wirtschafts- und Sozialpolitik, welche die Gesellschaft als Ganzes zu begünstigen versuchte, trat immer mehr eine Ausrichtung auf Partikulärinteressen. Nach der Mitte des letzten Jahrhunderts schlitterte Uruguay zunehmend in eine wirtschaftliche und soziale Krise. Verschärft wurde die Entwicklung durch die Militärdiktatur von 1973 bis 1985. In dieser Zeit wurde zwar wieder ein wirtschaftliches Wachstum verzeichnet, doch die Reallöhne sanken stark, und das Land erlitt einen wahren Aderlass. Rund 10 Prozent der Bevölkerung emigrierten aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen.

Seither ist es Uruguay nicht mehr gelungen, zur Wohlstandsgesellschaft der Vergangenheit zurückzukehren. Ein Vergleich mit Spanien verdeutlicht die Tiefe des Niedergangs. Noch Mitte der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts war das uruguayische Pro-Kopf-Einkommen doppelt so hoch wie das spanische. Heute beträgt es noch die Hälfte. Die Armutsrate ist von einem Hoch von über 40 Prozent am Ende der Militärdiktatur zwar zurückgegangen, doch seit der Argentinienkrise der Jahre 2001/02, die auch die uruguayische Wirtschaft in Mitleidenschaft zog, bewegt sie sich wieder in einem Bereich von 22 bis 32 Prozent.

Ignacio Munyo vom Centro de Estudios de la Realidad Económica y Social (Ceres) in Montevideo macht zudem geltend, dass die Armutsrate den wahren langfristigen Zustand verzerrt darstelle, da dieses Mass durch Sozialprogramme und konjunkturelle Ausschläge stark beeinflusst werde. Ceres arbeitet deshalb mit dem Konzept der sogenannten sozioökonomisch Ausgeschlossenen. Darunter versteht das Forschungsinstitut diejenigen erwachsenen Personen, die nicht genügend ausgebildet sind, um aus eigenen Kräften wirtschaftlich und sozial aufsteigen zu können. Die Untersuchungen von Ceres haben ergeben, dass sich der Anteil dieser Ausgeschlossenen unter den Erwachsenen zwischen 1985 und heute von 16 auf 32 Prozent verdoppelt hat. Das heisst, dass das Land mit einer wachsenden strukturellen Armut konfrontiert ist. Der Hauptgrund dafür sei das völlig ungenügende Bildungssystem, meint Munyo. Er bezeichnet es als eine Schande, dass in einem Land, das einst stolz auf seine gute Schulbildung war, beim letzten Pisa-Test 45 Prozent der Schüler auf den untersten zwei Stufen landeten.

Nicht alles sieht in Uruguay allerdings so düster aus, wie es diese Zahlen andeuten. Alvaro Padrón von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Montevideo weist darauf hin, dass zwar die wirtschaftliche Basis und die Infrastruktur, die einst den Wohlstand geschaffen hatten, verloren gegangen seien, dass sich andererseits aber das politische und institutionelle Arrangement bis heute in vielem erhalten habe. Uruguay besitzt ein gefestigtes Mehrparteiensystem, dessen Anfänge bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Es verfügt über stabile Regierungsinstitutionen mit einer funktionierenden Gewaltenteilung. Wirtschaft und Politik richten sich nach klaren Spielregeln, die nicht mit jeder neuen Regierung ändern. Eher herablassend schauen deshalb viele Uruguayer auf das Nachbarland Argentinien, dem diese Stabilität abgeht und das zyklisch von politischen und wirtschaftlichen Krisen heimgesucht wird.

Obere Mittelschicht zur Kasse gebeten
Seit 2005 wird Uruguay unter dem gemässigten Politiker und Arzt Tabaré Vázquez erstmals von einem Bündnis der Linken regiert, dem Frente Amplio. Es handelt sich um eine Koalition, an der ein breites Spektrum von Parteien von sozialdemokratischer bis hin zu marxistischer Prägung beteiligt ist. Vázquez ist mit dem expliziten Anspruch angetreten, das Land zu modernisieren und dafür zu sorgen, dass auch die ärmeren Schichten wieder am Wohlstand teilhaben können – etwas, das die zwei zuvor regierenden grossen Parteien nicht geschafft haben. Zu diesem Zweck initiierte er eine umfassende Reform des Bildungs- und des Gesundheitswesens. Die Ausgaben für die öffentlichen Schulen wurden verdreifacht, und deren Organisation soll modernisiert und qualitätsorientierter gestaltet werden. Dagegen leisten aber die Lehrergewerkschaften Widerstand. Selbst regierungsnahe Kreise geben zu, dass die Bildungsreform bisher noch nicht den gewünschten Erfolg gebracht hat und einen zusätzlichen Anstoss braucht.

Das Ziel der Gesundheitsreform ist, alle diejenigen Bevölkerungsschichten in die Krankenversicherung einzubeziehen, die bisher nicht geschützt waren. Dies geschieht zu einem nicht unbedeutenden Teil zulasten der bisherigen Beitragszahler. Die Reform integriert das öffentliche und das private Gesundheitssystem. Die Versicherten können den Anbieter frei wählen, und dieser wird nach seiner Leistung bezahlt. Vom daraus resultierenden Wettbewerb erhofft sich die Regierung eine Qualitätssteigerung. Zur Bezahlung der zusätzlichen Staatsausgaben führte Präsident Vázquez eine Einkommenssteuer für natürliche Personen ein, die bisher nicht existiert hatte. Dies und die Umstrukturierung der Krankenkasse bedeutet, dass die angestrebte Verbesserung der Bildung und der Gesundheitsvorsorge für die ärmeren Schichten hauptsächlich von der oberen Mittelschicht bezahlt werden muss.

Guerillero als Präsidentschaftskandidat
Noch nicht weit vorangekommen ist das ambitionierteste Projekt von Präsident Vázquez, eine Staatsreform. Diese soll einerseits die bürokratischen Abläufe straffen und transparenter machen und andererseits das Staatswesen dezentralisieren und den Bürgern eine stärkere Kontrolle darüber geben. Erklärtes Ziel davon ist, dass der Staat seine Dienstleistungen für die Gesellschaft besser erbringt. Der Widerstand gegen diese Reform, die viele Privilegien antastet, ist allerdings gross. Wenn überhaupt, wird sie erst in einer allfälligen zweiten Regierungszeit des Frente Amplio umgesetzt werden können.

Am 25. Oktober werden nämlich die nächsten Präsidentschaftswahlen stattfinden. Innerhalb des Frente Amplio setzte sich bei den Primärwahlen ein Politiker des radikaleren Flügels als Kandidat durch, der einstige Tupamaros-Guerillero José Mujica. Sein Vizepräsidentschaftskandidat ist der angesehene frühere Wirtschaftsminister Danilo Astori, was den Unternehmersektor etwas beruhigen dürfte. Der Hauptgegner Mujicas ist der frühere Präsident Luis Lacalle vom Partido Nacional. Er hatte die Geschicke des Landes bereits von 1990 bis 1995 geleitet und einen konsequenten neoliberalen Kurs verfolgt.

Beide Politiker gehören innerhalb ihres jeweiligen Lagers dem radikalen Flügel an. Der Wahlkampf dürfte deshalb zu einer verstärkten Polarisierung führen. Die Meinungsumfragen deuten bis jetzt auf einen knappen Ausgang hin. Jorge Brovetto, der Präsident des Frente Amplio, meint im Gespräch, nur eine zweite Amtszeit für das Linksbündnis ermögliche die Beendigung des Reformwerks. Die Führung des Frente Amplio habe den Wählern bereits bei den letzten Wahlen vor fünf Jahren gesagt, dass nur diejenigen das Bündnis wählen sollten, die auch bereit seien, diesem 2009 nochmals die Stimme zu geben. Fünf Jahre reichten zur Durchführung der versprochenen Reformen nicht aus.